Strukturelle Diskriminierung
„Politiker kümmern sich nicht darum, was Leute wie ich denken“ – 71 % der Befragten der 18. Shell Jugendstudie stimmen dieser Aussage zu (Shell 2019). Die Befragten der Studie sind zwischen 12 und 25 Jahre alt. Gerade Menschen dieses Alters sehen sich in ihrem Leben vielen existenzbedrohenden Krisen gegenüber: Krisen wie die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch den menschengemachten Klimawandel, der Krieg in Europa oder die durchlebten Einschränkungen und Nachwirkungen der Covid-19-Pandemie. Gleichzeitig haben sie das Gefühl, politisch und auch sonst wenig ausrichten zu können. Ihre Wünsche und Bedürfnisse werden selten gehört.
Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sind von den Bundestagswahlen ausgeschlossen. Zwar können in manchen Bundesländern Menschen ab 16 Jahren auf kommunaler oder Landesebene wählen, aber da der Anteil junger Menschen an der Gesamtbevölkerung abnimmt, haben ihre Stimmen insgesamt weniger Gewicht. Außerdem ist der Anteil junger Menschen in deutschen Parlamenten sehr gering: Im Deutschen Bundestag sind nur 50 von 735 Abgeordneten unter 30 Jahren, neun Personen gelten als „Schüler/-innen, Auszubildende, Studierende“ (Deutscher Bundestag 2021). Im Berliner Abgeordnetenhaus sind nur fünf von 159 Personen unter 35 Jahren (Berliner Morgenpost 2023).
Kommunen stehen in besonderer Verantwortung, die Vorgaben der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 12) umzusetzen. Diese ist in Deutschland geltendes Recht. Sie gibt vor, dass die Interessen und Meinungen junger Menschen gehört und beteiligt werden müssen, wenn es um sie betreffende Themen geht. Doch ist Kinder- und Jugendbeteiligung noch nicht überall verpflichtend in die kommunale Arbeit aufgenommen worden (Kinderfreundliche Kommunen e.V. 2022).
So sind Kinder und Jugendliche auf andere Formen der (politischen) Partizipation angewiesen. Die Themen, der Umfang und die tatsächliche Wirkung der Prozesse werden jedoch von Älteren vorgegeben und entschieden. Bei zukunftsweisenden und komplexen Themen ist Partizipation oft nicht vorgesehen und für das Vorantreiben eigener Themen fehlen oft die Ressourcen, vor allem das Geld.
Was ist Adultismus?
Dieses Machtungleichgewicht zwischen Kindern und Erwachsenen und die daraus resultierende Diskriminierung wird als Adultismus bezeichnet. Erwachsene werden aufgrund ihres Alters als kompetenter, intelligenter, verantwortungsbewusster oder reifer angesehen. Damit wird die Vernachlässigung der Ideen, Bedürfnisse und Meinungen von Kindern und Jugendlichen begründet. So sind sie im öffentlichen und politischen Diskurs oft nicht präsent oder repräsentiert. Ihre Meinungen werden größtenteils weder eingeholt noch berücksichtigt.
Handlungsempfehlungen
Bereits 2019 hat GEMEINSAM BERLIN gefragt: Wie stellen wir die Beteiligung der Gruppen sicher, die (bisher) ungehört sind? Was wünschen sich Kinder und Jugendliche für ihre Stadt und wie können diese Wünsche Wirkung entfalten?
Im Rahmen eines Workshops mit Schüler:innen und Expert:innen (u.a. Vertreter:innen der Kinder- und Jugendparlamente, Vertreter:innen von Kinder- und Jugendbüros, Drehscheibe Kinder- und Jugendpolitik Berlin, SV-Bildungswerk e.V. Peernetzwerk Spandau, Senatskanzlei, Landesjugendring) im November 2019 haben wir dazu Handlungsempfehlungen entwickelt.
- Erst Beziehung – dann Angebote! – Beziehungen zu „Zielgruppen“ / unterschiedlichen Milieus müssen aufgebaut werden, über formale Strukturen und informelle Strukturen / offene Jugendarbeit!
- Strukturen statt Einzelprojekte! – Für nachhaltige Beteiligungsstrukturen müssen Netzwerke langfristig entwickelt werden!
- Aufsuchen und beteiligen! – Informationen müssen barrierefrei und in einfacher Sprache über verschiedene Kanäle kommuniziert und an Zielgruppen herangetragen werden! Information ist die Basis eines jeden Prozesses. Die qualitative Auswahl der Teilnehmenden ist wichtig, Ungehörte müssen aktiv aufgesucht und informiert werden! Onlineangebote müssen in analoge Kontexte eingebunden sein!
- Ressourcen! – Es müssen konsumfreie kostenlose Räume für jeden Sozialraum zur Verfügung gestellt werden. Dazu können vorhandene Räume genutzt werden, wie Bibliotheken, Stadtteilzentren, Freiwilligenagenturen oder Jugendclubs. Es müssen Schulungen für Erzieher:innen, Lehrer:innen, Sozialarbeiter:innen und Multiplikator:innen angeboten werden!
- Keine Unklarheiten, sondern aktives Erwartungsmanagement! – Die Handlungsmöglichkeiten und der Umgang mit Ergebnissen müssen bereits im Voraus transparent sein!
- Beteiligung steigern – Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln! – Das Interesse an Beteiligung über Erfolgserlebnisse des eigenen Engagements verstetigen! Daraus lernen Kinder und Jugendliche ihre eigenen Interessen zu vertreten. Beteiligung muss in Bildungsangebote von KiTas und Schulen aufgenommen werden! Übung macht den Meister! Empowerment und Begleitung von Kindern und Jugendlichen!
- Beteiligung wertschätzen! – Anerkennung von Engagement!
- Übersetzer:innen und Multiplikator:innen – müssen in Beteiligungsprozesse einbezogen werden! – Es müssen Schnittstellen etabliert werden, die die unterschiedlichen Arten der Sprache in politische Forderungen und ihre Umsetzung konkretisieren!
- Erwachsene sind das Problem! – Junger Expertise muss mehr Vertrauen entgegengebracht werden!
- Selber machen! – Kinder und Jugendliche entwickeln ihre eigenen Themen, Wünsche und Formate, anstatt nur auf Angebote zu reagieren!
„Auf Augenhöhe“
Auf Grundlage der Handlungsempfehlungen haben wir über die nächsten zwei Jahre, erschwert durch die Umstände der COVID-19 Pandemie, Kontakt mit unterschiedlichen Netzwerken junger Menschen (u.a. FEZjugend Berlin, Bezirks- und Landesschüler:innenausschuss, Kinder- und Jugendparlamente, Offene Kinder- und Jugendarbeit) aufgenommen, verstetigt und vertieft. „Erst Beziehung – dann Angebote!“.
Daraus ist Anfang 2022 die Initiative Auf Augenhöhe entstanden. Unter dem Motto „Selber machen!“ haben die Mitwirkenden auf Grundlage einer Umfrage unter Berliner Schüler:innen Themen gesammelt, die für junge Menschen in Berlin besonders wichtig sind und wo sie sich ungehört fühlen. Dabei haben sich als Schwerpunkte die Themen Mentale Gesundheit, Bildung, Klima, Wohnen und Partizipation herauskristallisiert.
Das Ziel der Initiative Auf Augenhöhe ist es, andere junge Menschen zu ermutigen, ihre Wünsche zu äußern und eigene Themen und Formate zu entwickeln. Sie will zeigen: „Ihr könnt das auch! Und wenn ihr es einmal gemacht habt, dann ist es das nächste Mal schon viel leichter.“ „Beteiligung steigern – Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln!“ Um ins Machen zu kommen, hat die Initiative das Veranstaltungsformat „Auf Augenhöhe“ entwickelt, bei dem junge Menschen mit Politiker:innen, Wissenschaftler:innen und Verantwortungsträger:innen in einer entspannten Runde ins Gespräch kommen können. Themen und Inputs werden von den jungen Menschen gestaltet. Durch das Miteinander-Sprechen und Einander-Zuhören können junge Menschen ihre Lebenswelt sichtbar machen und ihre Expertise für die Themen zeigen. So lernen alle voneinander. „Erwachsene sind das Problem!“
Mit der Veranstaltung „Auf Augenhöhe – Mentale Gesundheit“ ist die Reihe im Oktober 2022 gestartet und hat dabei einen Nerv getroffen: Mentale Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für das gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen. Sie ist eng verknüpft mit der Lebenszufriedenheit und Leistungsfähigkeit junger Menschen sowie der erfolgreichen Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und Herausforderungen des Alltags. Gerade für die aktive Teilhabe an gesellschaftlichen und politischen Prozessen und zur Verwirklichung bürgerschaftlicher Mitverantwortung (Bildung einer Meinung, Glauben daran, dass die Meinung auch zählt, Glauben daran, dass man etwas verändern kann) ist mentale Gesundheit zentral. Auf Augenhöhe setzt sich dafür ein, dass in Berlin diverse Maßnahmen zur Stärkung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eingeleitet werden und dass dabei ihre Meinungen und Wünsche gehört werden. Im Juli 2023 ist dafür ein weiteres Treffen mit Expert:innen geplant, bei dem das Positionspapier der Initiative besprochen werden soll.
Bei der Umsetzung der Formate wird die Initiative von der Geschäftsstelle der Stiftung Zukunft Berlin unterstützt. Es stehen Räume, Personal, finanzielle Mittel und Netzwerke für die Durchführung der Formate zur Verfügung. „Ressourcen!“
Was nehmen wir (besonders) mit?
Eine Herausforderung bei der Umsetzung der Handlungsempfehlungen ist die Ressource Zeit. Menschen zwischen 15 und 25 Jahren befinden sich häufig in einer Phase der Aufbrüche und Umbrüche. So sind einige unserer Initiativenmitglieder mit Abschluss der Schule für eine Ausbildung oder ein Studium in eine andere Stadt gezogen. Darüber hinaus bleibt neben Schule, Studium, Praktikum, weiterem Engagement, Nebenjob, Familie und Freunde nur wenig Zeit, sich regelmäßig einzubringen. Das Zusammenwirken ist daher ein ständiger Aushandlungsprozess und muss kontinuierlich begleitet werden.
Auf Augenhöhe zeigt, dass die Handlungsempfehlungen dabei unterstützen, adultistische Strukturen und Prozesse aufzuweichen. Sie bieten Fixpunkte, an denen sich Institutionen, Organisationen und Gruppen orientieren können, wenn sie auf junge Menschen zugehen möchten. Sie sind eine Anregung, eigene Vorgehensweisen und Einstellungen zu überdenken und neu auszurichten. Außerdem zeigen die Empfehlungen auch nach außen, dass das Zusammenwirken mit jungen Menschen ernst genommen wird und sich eine Organisation mit den Themen auseinandersetzt, wenn auch nicht immer sofort perfekt!
Quellen:
Berliner Morgenpost 2023: Das ist das neue Abgeordnetenhaus nach der Wahlwiederholung
Deutscher Bundestag 2021: Der Bundestag wird weiblicher und jünger.