Ein Anruf gegen die Einsamkeit

Im Alter sehen sich viele Menschen mit Einsamkeit konfrontiert. In Berlin haben sie dank Silbernetz täglich die Möglichkeit, in solchen Fällen ein anonymes, persönliches Telefongespräch zu führen. Gründerin Elke Schilling und Projektleiterin Julia Goldstein haben mit uns darüber gesprochen, warum es so wichtig ist, die gesellschaftliche Teilhabe älterer Menschen sicherzustellen.

Während Elke Schilling 2004-2017 ehrenamtlich als Telefonseelsorgerin arbeitet, spricht sie eines Nachts mit einem 85-jährigen Mann. Er schildert ihr seine aktuelle Situation – seit dem Tod seiner Frau lebt er allein und isoliert – und fragt sie dann ganz offen: „Können Sie mir sagen, warum ich noch leben soll?“ Schilling stimmt das nachdenklich. Als Seniorenvertreterin in Berlin-Mitte ist sie auch vorher schon auf das Thema Einsamkeit im Alter gestoßen, jetzt überlegt sie: Wie könnte man den Betroffenen helfen?

Heute ist Elke Schilling Vorstandsvorsitzende des Silbernetz e.V., den sie vor vier Jahren ins Leben rief: Seit September 2018 stellt der Verein in Kooperation mit dem Humanistischen Verband Deutschland, Landesverband Berlin-Brandenburg, eine Hotline zur Verfügung, unter der einsame Menschen über 60 Jahre in Berlin von 8 bis 22 Uhr mit Telefonist*innen reden können, anonym und kostenlos. Darüber hinaus vermittelt „Silbernetz“ auch feste „Silbernetz-Freund*innen“, die dann regelmäßig zu einer bestimmten Zeit bei ihren Gesprächspartner*innen anrufen, um ihnen aus der Einsamkeit zu helfen.

Zahlen über Einsamkeit im Alter gebe es für Deutschland aktuell noch kaum, beklagt die 74-jährige Elke Schilling. „Auch das ist eine unserer Forderungen, dass sich das mal näher angeschaut wird.“ Nach Berechnungen des Vereins sind in Deutschland rund acht Millionen Menschen im Alter zwischen 60 und 99 Jahren zumindest zeitweise von Einsamkeit oder Isolation betroffen.

Der Prozess des Altwerdens bringe häufig Folgen mit sich, die sich auf Mobilität, Gesundheit und den Freundeskreis auswirken könnten, erklärt Julia Goldstein. Seit November 2018 ist die 35-Jährige Projektleiterin bei Silbernetz. „Mit dem Eintritt ins Rentenalter fällt oft die Alltagsstruktur weg. Das passiert nicht von heute auf morgen, aber wenn es einmal so weit ist, fällt der Weg zurück meist schwer.“ Dazu komme, dass alte Menschen ihr Zuhause oftmals als letzten Rückzugsort empfänden, ergänzt Schilling: „Viele Menschen können im Alter keine fremden Menschen mehr in ihrem Zuhause ertragen.“ Deshalb habe man sich letztlich für den telefonischen Service als beste Form der Hilfestellung entschieden: „Ein Telefon haben fast alle Zuhause, die Hemmschwelle ist nicht so groß“, so Schilling.

Porträt von Elke Schilling
Elke Schilling. (Foto: camcop media Andreas Klug)

Als Vorbild diente die seit 2013 in England existierende „Silver Line Helpline“: Das Hilfetelefon startete im Jahr 2013 als Pilotprojekt in Manchester und erhielt bereits 2014, im ersten Jahr der Aufnahme des landesweiten Betriebs in Großbritannien, 300.000 Anrufe. Elke Schilling besuchte die Zentrale in London und beschloss anschließend im Mai 2014, „selbst Menschen zu suchen, die man für ein solches Projekt begeistern konnte“.

Doch aller Anfang ist bekanntlich schwer, es mussten zunächst ein Finanzplan entwickelt und Kooperationspartner gesucht werden, den man 2017 schließlich im Humanistischen Verband Berlin-Brandenburg fand. An Weihnachten 2017 wurde dann eine erste Rund-um-die-Uhr-Telefonaktion auf die Beine gestellt, die vorab im großen Rahmen über Radio, Fernsehen und Tageszeitungen beworben wurde:

Von Weihnachten bis Neujahr 2017 war der Telefonservice 24 Stunden am Tag erreichbar und wurde mit durchschnittlich 10 Gesprächen am Tag so gut angenommen, dass anschließend auch die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung ihre Unterstützung zusagte.

2018 wurde die Aktion an Weihnachten wiederholt: Diesmal war die Anrufzahl bereits dreimal so hoch wie im Vorjahr, wobei in beiden Jahren jeder fünfte Anruf nachts getätigt wurde. Die Aktion zeigt damit, wie hoch der Bedarf älterer Menschen nach mehr sozialen Kontakten ist. Deshalb hat es sich Silbernetz nicht nur zum Ziel gesetzt, den Service in Zukunft dauerhaft von 14 auf 24 Stunden täglich erhöhen zu können. Sie würden außerdem gern deutschlandweit Anrufe ermöglichen.

Die Mitarbeiter*innen am Silbertelefon setzen sich bei Feiertagsaktionen aus einem Netzwerk ehrenamtlicher Helfer*innen sowie angestellter Mitarbeiter*innen zusammen, die über das Jobcenter vermittelt werden und in 4- oder 6-Stunden-Schichten am Telefon sitzen. Seit dem Hotline-Start im September 2018 arbeiten 8 Mitarbeiter*innen fest am Telefon, täglich sind sie von 8 bis 22 Uhr erreichbar. „Manche rufen jeden Tag für zehn Minuten an. Andere seltener, wünschen sich dann aber ein längeres Gespräch“, so Schilling.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, eine Silbernetzfreunschaft zu knüpfen. Dafür stehen aktuell rund 20 Silbernetzfreund*innen aktiv zur Verfügung und telefonieren einmal die Woche eine Stunde lang mit „ihrem/r“ Silbernetzfreund*in. So ein Anruf sei natürlich auch nicht immer Friede, Freude, Eierkuchen, erklärt Projektleiterin Julia Goldstein. „Deshalb finden auch regelmäßige Austauschtreffen für alle Silbernetzfreund*innen statt, bei denen auch immer eine Supervisorin dabei ist.“ Darüber hinaus fänden alle Anrufe anonym statt: Sowohl die älteren Menschen, die anrufen, als auch die Silbernetzfreund*innen lernen sich mit einem Pseudonym kennen, um die Privatsphäre der jeweils anderen zu schützen.

Neben der Telefonhotline und den festen Gesprächen mit zuständigen Silbernetzfreund*innen ist es dem Verein außerdem ein Anliegen, die älteren Menschen über bereits existierende, auf sie zugeschnittene Angebote in ihrem Kiez zu informieren: „Das Problem ist hier nicht ein Mangel an Angeboten, sondern dass diese mit den betroffenen Personen zusammengebracht werden müssen“, so Goldstein. „Zum Beispiel halten sich isoliert lebende ältere Menschen in der Regel gar nicht dort auf, wo etwa die Flyer fürs Nachbarschaftscafé verteilt werden. Sie werden dann nicht erreicht.“

Wer sich für die Teilhabe älterer Menschen einsetzen wolle, müsse außerdem auch mobilitätsunterstützende Faktoren mitdenken: „Wie komme ich hin? Wo kann ich Pausen machen? Wie komme ich mit dem Rollator voran? Diese Fragen müssen geklärt sein“, so Schilling. Auch seien viele ältere Menschen noch immer mit digitalen Angeboten überfordert. „Das Online-Formular, über das man sich in der Regel bei uns als Silbernetz-Freund*in bewirbt, kann deshalb auch immer mit der Post zugeschickt werden“, erklärt Goldstein.

Porträt von Julia Goldstein
Julia Goldstein. (Foto: Hoffotografen)

Alten Menschen in Berlin sei oft auch gar nicht bewusst, warum sie von existierenden, auf sie zugeschnittenen Angeboten profitieren können: „Am Telefon reagieren die Menschen oft mit Sätzen wie ‚Was soll ich da? Da wartet doch bloß ein weiterer Bingo-Abend auf mich!‘“, so Schilling.

„Es ist so wichtig, hier die richtigen Anknüpfungspunkte bereitzustellen. Ein Stadtteilzentrum reicht da leider nicht aus, unser Silbernetz ist mit seinem niedrigschwelligen Angebot eine von mehreren möglichen Lösungen.“

Deshalb können sich Elke Schilling und Julia Goldstein auch gut vorstellen, dass Silbernetz für einen Bürgerhaushalt als Brücke fungieren, ältere Menschen über diese Möglichkeit der Teilhabe informieren und beraten könnte.

Auch liege es Silbernetz am Herzen, die Vielfalt des Alterns sichtbar zu machen. „Niemand freut sich aufs Altwerden“, so Schilling. „Dabei ist das eine Lebensphase, die auch ganz viel Freiheit und Selbstbestimmung mit sich bringen kann. Demgegenüber fehlt noch einiges an Wertschätzung.“ Goldstein stimmt zu: „Alte Menschen sind ein wesentlicher Teil unserer Gesellschaft – es ist schade, was uns da an Erfahrung und Wissen verlorengeht, wenn diese Menschen nur Zuhause sitzen.“

Silbernetz ist täglich von 8 bis 22 Uhr unter der kostenlosen Rufnummer 0800 4 70 80 90 erreichbar.

Text: Clara Zink

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