Veranstaltungsbericht: Fachtagung „Demokratie 4.0 – Bürgerbeteiligung im Zeichen der Digitalisierung“

Veranstaltungsbericht: Fachtagung „Demokratie 4.0 – Bürgerbeteiligung im Zeichen der Digitalisierung“

Dienstag, 13. Oktober 2020, 14-17 Uhr
über Zoom

Zwei Menschen an Pulten diskutieren mit Mikrofon in der Hand
Dr. Frank Nägele (links) und Stefan Richter. (Foto: Philipp Klemm).

Im Rahmen unserer Fachtagung „Demokratie 4.0“ am 13. Oktober haben sich Akteur*innen aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Beteiligungspraxis der Frage gewidmet, welche Chancen, Methoden und Veränderungsprozesse mit der Digitalisierung von  Bürgerbeteiligung einhergehen. Begrüßung und Abschlussdiskussion fanden im „bUm – Raum für die engagierte Zivilgesellschaft“ der betterplace Umspannwerk GmbH in Kreuzberg statt; die Teilnehmer*innen schalteten sich per Zoom dazu. Auch die auf die Begrüßung folgenden Inputs sowie die Diskussionen in den Arbeitsgruppen fanden digital statt.

Die Einführung in die Fachtagung übernahmen um 14 Uhr zunächst Stefan Richter von der Stiftung Zukunft Berlin und Dr. Frank Nägele, Staatssekretär für Verwaltungs- und Infrastrukturmodernisierung, Senatskanzlei Berlin. Nägele nannte Berlin einen Vorreiter in Beteiligungsfragen und betonte in diesem Zusammenhang unter anderem die Vorbildfunktion der Berliner Beteiligungsplattform „meinBerlin“. Er berichtete, dass die Stadt Berlin im September dieses Jahres als „Modellprojekt Smart City“ ausgewählt worden sei und ihre Projektstrategie gemeinsam mit der Zivilgesellschaft erarbeitet habe. Herr Richter machte deutlich, dass die Stiftung Zukunft Berlin in ihrer Ausrichtung von Anfang Wert darauf gelegt habe, gemeinsam mit Politik und Gesellschaft an Lösungen zu arbeiten. Projekte wie das „Citylab“, das Nägele als „Pilgerort für das  neue, digitale, smarte Berlin“ bezeichnete, könnten dabei eine Hilfe sein.

Digitalisierung: Chancen, Risiken, positive Beispiele

Um 14:20 Uhr begann der erste Input zu den Themen Digitalisierung und Bürgerbeteiligung mit einem Vortrag von Jörg Sommer vom Berlin Institut für Partizipation über Chancen, Risiken, Mythen und Erwartungen im Zusammenhang mit Digitalisierung und Bürgerbeteiligung. Seine Aufgabe sei es heute, „die Grundlage unserer Debatte ein wenig einzuordnen, und zwar aus der Perspektive des Demokratieforschers“, erklärte Sommer zu Beginn seines Vortrags und betonte: Digitalisierung sei kein automatischer Heilsbringer. Die Fachtagung heute werde zeigen: Die Kombination von off- und online-Formaten sei komplex, zeige aber Potenzial und müsse durch Veranstaltungen wie die heutige weiter erforscht werden. Zentrale Frage bliebe dabei, ob das Digitale zum Diskurs beitragen und wie es genutzt werden könne.

Im Anschluss an Herrn Sommer übernahm Urmas Klaas, Oberbürgermeister von Tartu, das Wort und berichtete von der digitalen Bürgerbeteiligung in Estlands Hauptstadt. Über 91 Prozent der estnischen Bevölkerung benutze das Internet regelmäßig, seit 2005 fänden in Estland elektronische Wahlen statt, bei den letzten Wahlen 2019 hätten fast 50 Prozent der estnischen Wähler*innen ihre Stimme elektronisch abgegeben. Die Menschen in Tartu seien es gewohnt, nach ihren Ansichten und Meinungen gefragt zu werden und die Möglichkeit, mitzureden, werde aktiv genutzt. Die Digitalisierung biete in diesem Zusammenhang neue Möglichkeiten der Einbeziehung, vor allem von jungen Menschen. Klaas erläuterte den Prozess des partizipativen Budgets in Tartu von den eingereichten Vorschlägen bis zum Referendum und bezeichnete die Integration der Bürger*innen in Tartu als „lange Reise“, auf der man gelernt habe, zu integrieren und integriert zu werden.

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Eine weitere Perspektive trug Michael Lederer vom Büro für Zukunftsfragen aus Vorarlberg, Österreich, zur Debatte bei, indem er zum einen das Inspirationshandbuch „Raumwechsel“  für Beteiligung vorstellte: Das Handbuch sei als eine Sammlung positiver Beispiele zusammengestellt worden mit dem Ziel, Mut für digitale Beteiligung zu machen, einen Überblick über verschiedene Tools zu bieten und die Demokratie zu stärken. Anschließend stellte Lederer  Vorarlbergs digitale Beteiligungsplattform „Vorarlberg mitdenken online“ vor, die 2017 mit der Intention ins Leben gerufen worden sei, die analogen Beteiligungsformate zu ergänzen, vor allem im Hinblick auf die transparente Dokumentation der Ergebnisse. Lederer plädierte dafür, Beteiligungskultur nicht nur analog zu denken, sondern in verschränkter Weise auch im digitalen Raum partizipative Demokratie zu stärken.

Wie wirkt sich Digitalisierung auf Prozsse der bürgerschaftlichen Mitverantwortung und der informellen Bürgerbeteiligung aus?

Um 15 Uhr teilten sich alle Teilnehmer*innen dann für die Diskussionen in Arbeitsgruppen auf. Die erste Diskussion stand im Licht der Frage, wie die Digitalisierung Prozesse der bürgerschaftlichen Mitverantwortung und der informellen Bürgerbeteiligung verändert. Zum Thema stellte Astrid Köhler von der Stadtwerkstatt Hamburg das digitales Partizipationssystem (DIPAS) der Hafenstadt vor. Die Vorteile digitaler Beteiligung sehe sie u.a.  in der der Unabhängigkeit von Zeit und Ort, der Transparenz des Verfahrens, und dem gleichberechtigten Zugang zu Informationen. In DIPAS  ließen sich zudem u.a. stadtbauliche Entwürfe hochladen, die den Bürger*innen einen tieferen Einblick in Baupläne ermöglichten.

Nephtis Brandsma erzählte am Beispiel der Software „CONSUL“ von den Erfahrungen, welche die Stadt Groningen mit digitaler Beteiligung gemacht habe. Digitale Beteiligung sei in Groningen Teil eines größeren Experimentes, um herauszufinden, wie der Dialog in der Stadt gestärkt werden könne – und tatsächlich habe die Einführung des Online-Verfahrens bereits die generelle Motivation der Bevölkerung gestärkt, sich in die Stadtdebatte einzubringen. Beipielhafte erzählte Brandsma von einer digitalen Abstimmung in einem Stadtteil Groningens, an der sich zuletzt etwa eintausend Bürger*innen beteiligt hätten: Dies entspräche einem Anteil von zehn Prozent der Stadtteilbevölkerung und sei damit ein sehr erfreuliches Ergebnis. Moderiert wurden die Inputs jeweils von Evelyn Bodenmeier vom GermanZero e. V. Sowie Prof. Dr. Christoph Peters von der Universität Kassel.

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Welche Perspektiven bietet die Digitalisierung für direktdemokratische Methoden und Entscheidungen?

In der zweiten Arbeitsgruppe wurde diskutiert, welche Perspektiven die Digitalisierung für direktdemokratische Methoden und Entscheidungen bieten. Ralph Brodel, Bürgermeister
der nordrhein-westfälischen Stadt Sundern, sprach dafür über die interaktive Bürgerbeteiligung der Stadt. Brodel betonte, dass man in Sundern Wert darauf gelegt habe, digitale Bürgerbeteiligung nicht als „demokratisches Fast Food“ zu betrachten, sondern die Menschen durch die Beteiligungsformate auch gezielt zu fordern. Bislang könne die in Sundern eingeführte Online-Plattform 258 registrierte Nutzer*innen bei einer Einwohnerzahl von 29.0000 vorweisen.

Volker Vorwerk vertrat in der Diskussion die Onlineplattform Bürgerwissen und brachte sich mit einem Input über Voting in Online-Dialogen ein. Direkte Demokratie müsse stets mit einem öffentlichen Diskurs einhergehen, und digitale Formate böten in dieser Hinsicht viele Vorteile für die Vorbereitung und Begleitung direktdemokratischer Verfahren, so Vorwerk. Er stellte u.a. zwei Voting-Plattformen vergleichend gegenüber und machte dabei deutlich, dass Simplizität zu mehr Bewertungen führe.
Moderiert wurden diese Inputs jeweils von Dr. Bettina Knothe sowie Claudia Peschen.

Möglichlkeiten digitaler Beteiligung bei gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren und Großprojekten

Wie werden Möglichkeiten digitaler Beteiligung bei gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren und Großprojekten eingesetzt? Darüber wurde im Rahmen des dritten Arbeitskreises gesprochen. Dr. Dirk Manthey von der 50Hertz Transmission GmbH gab einen Einblick in die Herausforderungen und Möglichkeiten digitaler Beteiligung beim Ausbau des Stromnetzes (50Hertz ist für das Übertragungsnetz in Nord- und Osteutschland verantwortlich). Neu entwickelte Maßnahmen müssten sich bei 50Hertz stets einem komplexen Genehmgiungsverfahren anpassen, so Manthey – die Corona-Pandemie habe sich deshalb in unterschiedlicher Weise auf verschiedene Beteiligungssiutationen ausgewirkt, so seien etwa Kreiskonferenzen zur Abstimmung über Beteiligungsprozesse ausgefallen. Zu den digitalen Antworten auf diese Herausforderungen zählte Manthey u.a. Präsenztermine und Besprechungen, die durch Telefonsprechstunden und Webkonferenzen ersetzt wurden, und die Verstärkung der Presse- und Medienarbeit, um auch bereits etablierte Infrastrukturen zu nutzen.

Nadine Bethge vom Deutsche Umwelthilfe e.V. stellte die digitale Ergebniskonferenz „Westküstendialog“ vor, ihre Kollegin Judith Grünert nahm anschließend an der Diskussion teil.
Die Ergebniskonferenz sei als informeller Moderations- und Organisationssupport für das im April 2018 gestartete analoge Verfahren ins Leben gerufen worden, mit dessen Hilfe der Planungsstand eines Projekts (d.i. die Einrichtung eines neuen Trassenkorridors für einen Abschnitt der Westküstenleitung) der Bevölkerung in der Region präsentiert werden sollte. Analoge und digitale Formate seien z.B. in Form einer digitalen Pressekonferenz kombiniert worden, auf deren Basis die Bürger*innen Fragen einreichen konnten, die dann bei einer live-Ergebniskonferenz diskutiert werden sollten. Mit diesem Vorgehen habe man gute Erfahrungen gemacht, so Bethge.

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Beide Inputgeber*innen bezeichneten den Beziehungs- und Vertrauensaufbau als große Herausforderung für digitale Formate, der persönliche Austausch mit den Bürger*innen vor Ort bleibe daher sehr wichtig. Nichtsdestotrotz böten digitale Beteiligungsprozesse gute Chancen, eine große Teilnehmer*innenzahl an einem Ort zusammenzubringen. Außerdem sei eine anschließende Evaluation für das Erleben der genutzten Formate zentral. Die beiden Inputs wurden von Oliver Märker (Zebralog) und Nina Leseberg (Senatskanzlei Berlin) moderiert.

Abschlussdiskussion mit Fragen aus dem Publikum

Um 16 Uhr kamen alle Teilnehmer*innen noch einmal digital zusammen, um sich der Abschlussdiskussion zu widmen. Für die eigentliche Diskussion setzten sich Matthias Stein, Mitglied des Deutschen Bundestages, SPD, Susanna Kahlefeld, Vorsitzende des Ausschusses für Bürgerschaftliches Engagement und Partizipation des Abgeordnetenhauses von Berlin, Bündnis 90/ DIE GRÜNEN und  Stefan Richter von der Stiftung Zukunft Berlin zusammen, zudem wurde Ralf Laumer (Landkreis Marburg-Biedenkopf, Leiter der Stabsstelle Dezernatsbüro der Landrätin) digital dazugeschaltet. Die Moderation übernahm Jörg Sommer vom Berlin Institut für Partizipation, der auch Fragen aus dem Publikum in die Diskussion einbrachte: Zum Beispiel wurde die Frage gestellt, wie sich Entscheidungsträger*innen bei digitalen Formaten einbringen und vermieden werden könne, dass Bürger*innen nur unter sich diskutierten. Sie habe sich in den letzten Monaten häufig als Teilnehmer*in bei Beteiligungsverfahren eingewählt, um einen Eindruck von Stimmung und Argumenten in der Debatte zu erhalten, berichtete Frau Kahlefeld. Es käme außerdem darauf an, Beteiligungsprozesse schon im Vorhinein so anzulegen, dass die Stimmen aus der Politik mit abgefragt würden – egal, ob analog oder digital.

Drei Menschen in einer Diskussion mit Mikrofon
Stefan Richter, Susanna Kahlefeld und Matthias Stein (v. l. n. r.). (Fotos: Philipp Klemm)

Von Sommer auf seine Erwartungen an den Bürgerrat angesprochen, führte Herr Stein an, er erhoffe sich mehr Diskurs mit Menschen, die sich vielleicht nicht tagtäglich mit Politik beschäftigten und Politker*innen nochmal eine andere Sichtweise vermitteln könnten. Auf die Nachfrage, welches Potenzial die digitale Bürgerbeteiligung für die Inklusion von Menschen mit Behinderung bereithalte, machte Kahlefeld deutlich: Digitalisierung alleine schließe nicht automatisch besser ein, sie könne aber durchaus neue Zugänge ermöglichen. Enscheidend sei es, die technischen Möglichkeiten entsprechend zu nutzen. Herr Richter betonte, dass auch in dieser Hinsicht digitale Räume und analoge Formen zusammengedacht werden müssten. Alle drei Gesprächsteilnehmer*innen waren sich einig, dass die Sicherstellung gleicher Zugangschancen zu den größten Herausforderungen für digitale Beteiligung gehöre. Als weitere Herausforderung nannte Ralf Laumer die Aufgabe, den digitalen Beteiligungsprozess auch in der Verwaltung mitzutragen. Alle Redner*innen äußerten sich abschließend optimistisch, dass der coronabedingte Digitalisierungsdruck für zukünftige Beteiligung optimal genutzt werde und vermuteten, dass hybride Beteiligungsformate in Zukunft zur Regel würden. Der Druck aus der Zivilgesellschaft sei auf diesem Wege wichtig und notwendig.

Die Playlist mit allen Videomitschnitten der Beiträge finden Sie hier:

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2 Antworten zu “Veranstaltungsbericht: Fachtagung „Demokratie 4.0 – Bürgerbeteiligung im Zeichen der Digitalisierung“”

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